Veränderung erforderlich! Kommentar zum Einzelhandel Post-Corona
Die Impfungen kommen langsam bei der breiten Bevölkerung an, der Sommer ist da. Zeit, die Türen und Fensterläden zu öffnen und tief durchzuatmen – der Einzelhandel hat die schlimmste Phase bald hinter sich. Oder? Offen gesprochen trifft das wohl nur auf die wenigsten zu. Der Handelsverband Deutschland (HDE) rechnet im April 2021 damit, dass dem Einzelhandel hierzulande bald bis zu 50.000 Insolvenzen drohen könnten. Maßgeblich entscheidend ist das Verhalten während der Pandemie. Harte Zeiten stehen für all diejenigen bevor, die den Lockdown nicht als zukünftige Chance begriffen und sich auf althergebrachten Verkaufs- und Vertriebskanälen ausgeruht haben. Wer die neuen Marktbedingungen und vor allem auch das Konsumverhalten antizipiert und entsprechend reagiert hat, dem kann durchaus eine goldene Zukunft bevorstehen.
Trotz einiger Anstrengungen ist der Einzelhändler nach wie vor einer politischen Willkür ausgesetzt. Die staatlichen Hilfen dienen zwar einer Überbrückung, allerdings hat kaum jemand mit einer so langen Lockdown-Phase gerechnet. Ein kürzerer, härterer Lockdown und Freiheiten bei der pragmatischen Umsetzung von Hygiene- und Verkaufskonzepten – hätten, könnten ... Was bei der Politik-Kritik aber meist außer Acht gelassen wird: Die Pandemie ist keine Zeit, die es nur zu überbrücken gilt und danach ist alles wie zuvor. Disruptive Veränderungen durch neue Marktteilnehmer, die Digitalisierung und die Wandlung der Innenstädte waren bereits vor der Pandemie im Gang, wurden durch sie verstärkt und werden bleiben. Die folgenden drei Thesen von Steffen Wagner zeigen den akuten Zugzwang des Einzelhandels.
These 1: „Click and Collect als Ersatz für einen geöffneten Store ist Sterben auf Raten"
Anpassungen von Geschäftsmodellen der Einzelhändler haben, wenn überhaupt, beim Verkaufskanal stattgefunden – teilweise ohne Rücksicht auf langfristige Kompatibilität und die Zeit nach der Pandemie. Die Politik verkaufte Click and Collect als Heilsbringer des Einzelhandels. Was jedoch für große Ketten wie IKEA gut funktioniert, kann für den kleinen Einzelhändler in der Stuttgarter Fußgängerzone keine langfristige Lösung sein. Denn die damit verbundenen Kosten sind höher als der nachhaltige Profit. Zusätzlich wird durch Click and Collect, während der Einzelhändler „eigentlich“ geschlossen ist, der ursprüngliche Mehrwert des Einzelhandels ausgehebelt: die qualifizierte und persönliche Fachberatung. Das Fachpersonal wurde zwischenzeitlich als kurzfristige Sparmaßnahme abgebaut, falls es nicht bereits ohnehin das Weite gesucht hat. Nach Monaten des Über-Wasser-Haltens werden viele den Weg zurück nicht mehr schaffen. Denn wenn es wieder losgeht, fehlt ja nicht nur die staatliche Hilfe, sondern auch das qualifizierte Fachpersonal. Aus unserer eigenen Arbeit mit der Unterstützung beim Erhalt von Coronakrediten können wir sagen: zwei Drittel der erhaltenen Mittel werden für die Verlustfinanzierung verwendet. Eine Studie von bachert&partner dazu zeigt: Ein Drittel der Unternehmen, die einen Corona-Kredit erhalten haben, werden dennoch nach der Pandemie krisengefährdet sein. Manche ahnen das schon jetzt: Auf der Stuttgarter Königsstraße sind einige Läden noch voll mit Inventar – aber die Mieter sind gar nicht mehr da.
These 2: „Die Zeit der großen Ladenflächen neigt sich dem Ende zu“
Die Hybridisierung der Geschäftsmodelle mit zunehmender Verlagerung in den digitalen Raum war bereits vor Corona ein Muss. Dazu muss sich der stationäre Einzelhändler Gedanken machen, wie er die qualifizierte Fachberatung im Laden auch online anbieten kann – beispielsweise über Videotelefonie und Augmented-Reality-Konzepte. Dieser Trend wird auch nach Corona anhalten. Einzelhändler müssen ihre überdimensionierten Strukturen abbauen und teure Flächen effizienter nutzen. Eine Anpassung der Logistik ist nötig. Wer nicht die eigene Infrastruktur und finanziellen Mittel im Haus hat, um Onlinelandschaften hochzuziehen, darf sich auch hier nicht mit Übergangslösungen behelfen. Lieber Partnerschaften suchen und den digitalen Geschäftsteil gleich ganz abgeben, als es selbst nur halb richtig zu machen. Halb richtig heißt beispielsweise eine Standard-Plattformlösung einer New Tech Firma zu bezahlen und den Mann der Chefin, der vorher im Verkauf stand, jetzt Suchmaschinenoptimierung betreiben lassen.
These 3: „Der Einzelhändler Post-Corona hat in städtischen Ballungszentren eine goldene Zukunft vor sich“
Der Einzelhandel Post-Corona wird langfristig eine Renaissance erleben – und sei es durch den Klimawandel. Urlauber werden weniger in die Ferne reisen, die individuelle Mobilität nimmt mit der Verdrängung des eigenen Autos weiter ab. Im Jahr 2100 werden mehr als 90 Prozent der Menschen in der Stadt leben, statt wie heute 50 Prozent. Damit werden andere Formen des Freizeitausgleichs in der Stadt und unmittelbaren Umgebung entstehen müssen. Die nahe Innenstadt wird umso mehr zum Ausflugsziel: Konzepte, die Wohnen und Leben in einem vereinen. Die Quadratmeterpreise in der Innenstadt steigen weiter – wir sehen es in Stuttgart. Noch ein Grund mehr für den kleinen Einzelhändler, sich neue Ideen einfallen zu lassen und den Erlebnisaspekt stärker in den Vordergrund zu stellen. Pop-up-Zonen zum Beispiel, mit einem flexiblen Standort statt dem überdimensionierten Flagship-Store. Oder hybride Konzepte – beispielsweise wie der Ur-Stuttgarter Einzelhändler Merz & Benzing, der seit Jahrzehnten diese Strategie hervorragend verfolgt.
Fazit: „Die Innenstädte müssen sich neu erfinden - der Handel sollte aber nicht darauf warten"
Fest steht: So wie bisher wird es nicht weitergehen, wir befinden uns bereits mitten im Wandel. Einen großen Teil der lokalen Einzelhändler wird es nach dem tatsächlichen Ende der Pandemie nicht mehr geben. Wer bereits jetzt mit hoher Verschuldung operiert, sollte über einen geordneten Ausstieg nachdenken. Für solche mit finanzieller Handlungsfähigkeit kann ein hybrides Angebot aus stationärem Handel und E-Commerce der Grundstein für eine unternehmerische Zukunft sein. Hier spielt auch Vernetzung der Unternehmen untereinander und Ausdifferenzierung des Angebots eine Rolle. Dafür muss die Politik rechtliche Rahmenbedingungen schaffen und die Städte müssen den Umbau aktiv fördern.
Steffen Wagner, Geschäftsführer bei bachert&partner, ist eingefleischter Stuttgarter und Fachmann für das Thema Handel. Als Finanzexperte war er zuvor fünf Jahre bei einem Spezialisten für Campingzubehör im Versand- und Einzelhandel tätig. Ein Sanierungsfall, der durch die Übernahme des größten Konkurrenten und der Entwicklung einer innovativen Einzelhandelsstrategie wieder auf die richtige Spur gebracht werden konnte. Als das Unternehmen schließlich im Zuge des starken Wachstums von einem großen Handels- und Touristikkonzern aufgekauft wurde, entschied Wagner sich gegen starre Strukturen und für die (Mit-)Gründung von bachert&partner. Dort begleitet er Unternehmen im Mittelstand bei der Restrukturierung und Sanierung und macht sie so zukunftsfähig. bachert&partner unterstützt Unternehmen neben dem üblichen Tagesgeschäft aktuell auch beim Erhalt von Coronahilfen und steht damit im direkten Austausch mit Entscheidern der jeweiligen Marktsegmente.